Unterwegs

Da sich mein Leben  mittlerweile zu einem großen Teil auf Rädern abspielt, stelle  ich hiermit die neue Rubrik "Unterwegs" vor. In ihr werde ich versuchen, meine beiden größten Leidenschaften zusammenführen, nämlich das Schreiben und das Reisen. 

 

--- und hier die passende Begleitmusik (zum Anhören Bild anklicken): 

Steinerne Asche


Liebe Anna!

 

Wenn sie diesen Brief abfangen, werden sie mich vermutlich töten. Und dabei viel Spaß haben! Aber ich muss ihn trotzdem zu Papier bringen und ihn auf einen ungewissen Weg schicken. Denn ich liebe dich und werde wohl keine Gelegenheit mehr haben, dir dies auf eine andere Weise zu sagen.


Entsetzlich viele hier sind kurz vor dem Verhungern und ich mache dabei leider keine Ausnahme. Zum Frühstück gab es heute einen Topf mit schmutzig-grauer Brühe, die mit Kaffee nicht einmal die Farbe gemeinsam hat und für die „Negerschweiß“ noch eine der wohlwollenderen Bezeichnungen ist. Als Mittagsmahlzeit dann einen halben Liter Steckrübeneintopf, auf den sich nicht ein einziges Fettauge verirrt hatte, und abends schließlich trockenes Graubrot mit einem Löffel Marmelade.

 

So sehe ich inzwischen aus wie der Tod in einem Marionettentheater. Knochen, die man in dem blau-weiß gestreiften Kostüm klappern hören müsste, und ein Gesicht, das mich selbst erschreckt, wenn ich es einmal schaffe, mich zu rasieren.

 

Obwohl die Sonne heute fast ununterbrochen schien (sogar für uns) und wir bei der Arbeit keine Sekunde verschnaufen dürfen, friere ich ständig. Steine müssen wir brechen, damit Linz zur „Führerstadt“ ausgebaut werden kann. Nicht Marmor oder Sandstein wollen sie dafür nehmen, sondern Granit. Kalt, hart und grau wie unsere Bewacher, die uns immer wieder dazu zwingen, zentnerschwere Felsbrocken die dreißig Meter hohe „Todesstiege“ nach oben zu schleppen.

 

 Für die Gegend und die Menschen, die hier leben, war der Mauthausener Granit immer ein Segen, das blaugraue Fundament eines bescheidenen Wohlstands. Für uns ist er nur noch einziger, nicht enden wollender Fluch.


„Wiener Graben“ heißt unser Steinbruch, was irgendwie sogar schön klingt. Nach Wiener Walzer, Wiener Opernball oder Wiener Kaffeehaus. Und nach Wiener Würstchen. Denn nichts anderes als Würstchen sind es, die uns hier Tag für Tag demütigen, quälen und gelegentlich einen von uns totprügeln. Würstchen, die man mit einem Totenkopf an der Mütze zu Fürstchen gemacht hat. Direkt aus der Gosse zu Herren über Leben und Tod!

 

Nimm unseren Blockführer, der früher als Fliesenleger gearbeitet hat, bevor er jahrelang arbeitslos war. Um dem Dienst in der Wehrmacht zu entgehen, hat er sich freiwillig hierher gemeldet. Statt in Russland in einem schlammigen Schützengraben zu verrecken, darf er nun zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl von Macht auskosten. Ich kann nicht einmal sagen, daß er  bösartig wäre. Sondern einfach nur gleichgültig, was uns betrifft, und stets darauf bedacht, seinen vermeintlichen Aufstieg herauszukehren und zu verteidigen.

 

Ungleich schlimmer sind die Kapos, Asoziale und Berufsverbrecher, die für die SS die Drecksarbeit erledigen. Dafür dürfen sie hier in einem Luxus schwelgen, von dem sie draußen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Bis hin zu Rehbraten, Bordellbesuchen und Grünem Veltliner. Eine Reihe von ihnen hat man sogar in Phantasie-Uniformen gesteckt, die mich an eine Mischung aus Kolonialtruppen und Dorfgendarmen erinnern. So stehen sie nun scheinbar auf der Seite des Gesetzes und spielen Polizei. Ein tödliches Spiel mit Säbeln und mit Knüppeln!

 

Am ärgsten dran sind unsere jüdischen Kameraden, die aus purer Langeweile mißhandelt und ermordet werden. Und wenn es zum Totschlagen zu viele sind, treibt man sie über eine Felswand und lässt sie in den Steinbruch hinabstürzen. Fünfzig Meter tief, dieselbe Methode, mit der die Steinzeitjäger einst ihre Wildpferde und Mammuts erlegt haben.

 

Steinzeit. Ich glaube, das ist das passendste Wort. Für den Stein, den wir brechen müssen und der unser Leben vernichtet. Und für die viehischsten Instinkte, die seit der Steinzeit verschüttet waren. Aber anscheinend doch nicht tief genug verscharrt, um sich ausgerechnet in unserem Jahrhundert wieder Bahn brechen zu können.

Vielleicht geschieht ja ein Wunder und von all dem bleibt nur eine originelle Geschichte für unsere Enkel übrig. Damals, als Opa Fritz im Lager saß … Genau wie die Anekdoten, die dein Großvater Karl so gern vom Frankreichfeldzug 1870 zum Besten gab. Vielleicht ist alles nur ein böser Traum und ich wache morgen früh wie immer neben dir auf. Vielleicht – vielleicht bin ich auch jetzt schon tot.

 

Es umarmt und küßt dich

Dein Fritz

 

* * *

 

Als er die Straße überquerte und auf den Helmut-Zilk-Platz mit dem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus zulief, bemerkte er dort eine Frau, deren Verhalten ihm seltsam vorkam. Anstatt das Ensemble von allen Seiten abzulichten, wie er es von der Mehrzahl der Wien-Besucher gewohnt war, ging sie langsam um die einzelnen Teile der Anlage herum.

 

 Um das Tor der Gewalt, im unteren Teil geformt aus jenem Granit, der von den Häftlingen des KZ Mauthausen unter unmenschlichen Bedingungen gewonnen werden musste. Um das Totenreich des Hades, dargestellt durch einen Marmorblock, in dem der antike Orpheus verschwindet, um seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt zu befreien. Und um den knienden und straßenwaschenden Juden, der all den Demütigungen ein Gesicht gab, die diese Menschen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auch in Österreich hatten erdulden müssen.


Zwischendurch hielt sie inne, strich mit der Hand über die steinernen Oberflächen und wirkte so, als würde sie dort etwas suchen.

Er hatte schon wiederholt erlebt, dass Unbelehrbare das Denkmal mit Schmierereien und zynischen Kommentaren besudelten, auch dass Touristen sich für eine Brotzeit oder eine entspannte Zigarette auf der Bronzeplastik des scheuernden Juden niederließen. Deshalb beschloss er, die verdächtige Person nicht aus den Augen zu lassen.

Die Frau drehte noch zwei Runden über den Platz. Dann blieb sie neben dem Tor der Gewalt stehen, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und schob es verstohlen in jene schmale Fuge, die den Granitsockel von der eigentlichen Skulptur aus Marmor trennte. Fast im gleichen Augenblick war er bei ihr.


 „Was … tun Sie hier?“, herrschte er sie an.

 

„Ich versuche, mich zu erinnern. An meinen Opa und an all das Ungeheuerliche, das sich in diesem Land vor wenigen Jahrzehnten abgespielt hat. – Und wer sind Sie, dass Sie mich dabei stören dürfen?“

 

„Landespolizeidirektion Wien. Oberkommissär Kramer“, antwortete er und streckte ihr seinen Dienstausweis dabei entgegen wie eine Monstranz. Dann fingerte er den verknitterten Zettel wieder aus der Ritze heraus und schlug ihn auf. Das Papier war in altmodischer Sütterlinschrift beschrieben, die er nicht entziffern konnte. Lediglich die Buchstaben SS stachen ihm mit ihren kantigen Konturen ins Auge.

 

 „Was ist das?“

 

„Das ist das letzte Lebenszeichen meines Großvaters. Ich würde es ihm gern zurückgeben. Hier. Aber wenn Sie einen besseren Platz kennen – vielleicht sogar sein Grab …“

 

Sein Gesichtsausdruck wurde augenblicklich nachgiebiger. Er brachte sogar die Andeutung eines Lächelns zustande, als er antwortete: „Solche zeitgeschichtlichen Dokumente sind von unschätzbarem Wert für die Wissenschaft. Sie müssen unbedingt erhalten werden. Und das geht nicht, indem man sie im Freien an ein Denkmal klemmt. Am besten, Sie geben mir den Brief gleich mit. Ich kümmere mich darum, dass er ordnungsgemäß behandelt wird. Erfasst, ausgewertet, konserviert und archiviert. Ach ja, und natürlich auch digitalisiert. Dann können Sie ihn sogar im Internet nachlesen!“

 

„Das ist sehr nett von Ihnen; vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft! Aber ehrlich gesagt ist das hier leider nur eine Kopie. Wissen Sie was: Sie verraten mir Ihre Anschrift und ich schicke Ihnen das Original-Schreiben morgen mit der Post zu.“

 

Mehr als zwei Wochen lang wartete er vergeblich auf den angekündigten Brief und ärgerte sich jeden Tag mehr, dass er das Schriftstück nicht gleich an Ort und Stelle konfisziert hatte. Ein Brief aus dem Dritten Reich, möglicherweise original aus einem Konzentrationslager, wo fand man so etwas noch?

 

Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, traf an einem Mittwochmorgen ein schmuckloser brauner Umschlag in der Dienststelle ein. Er trug keinen Absender und war an ihn persönlich adressiert.

 

Er öffnete ihn. Er öffnete ihn eine Spur zu hastig, hatte er doch nicht vermutet, dass sich Asche darin befinden könnte.

 

Nichts als Asche. Nun wirbelte sie durch die Luft, schwebte in zarten Flocken langsam wieder nach unten und landete ganz sanft auf seinem Schreibtisch mit der lustigen Bürotasse darauf. Und auf seinem glatten, blütenweißen Hemd mit den dezenten hellblauen Streifen