Unterwegs
Da sich mein Leben mittlerweile zu einem großen Teil auf Rädern abspielt, stelle ich hiermit die neue Rubrik "Unterwegs" vor. In ihr werde ich versuchen, meine beiden größten Leidenschaften zusammenführen, nämlich das Schreiben und das Reisen.
Vergessene Helden
Wahrscheinlich war es einfach die falsche Jahreszeit. Ganz Frankreich, nein: ganz Europa, schien sich Anfang August in Richtung Kanalküste in Bewegung gesetzt zu haben. Honfleur, Trouville, Deauville … Namen wie Musik und dazu voller Erinnerungen! Aber alle ohne ein freies Plätzchen für mich, für den Hund und unseren kleinen Camper. Ich irrte von Rezeption zu Rezeption, sagte mein Sprüchlein auf – und fuhr gezwungenermaßen weiter. Dann auf einmal ein Campingschild an einer Stelle, wo eigentlich kein Zeltplatz verzeichnet war. Ich folgte ihm und stieß nach einhundert Metern auf ein langgezogenes Wirtschaftsgebäude, offensichtlich halb Scheune und halb Stall. Als ich anhielt, tauchte eine Frau in Arbeitskleidung auf und erklärte mir, dass ich mich gern zu den anderen Wohnmobilen dazustellen dürfe. Hinten auf der Wiese. Neun Euro für die Übernachtung war nicht viel und schloss einen Verschlag in der Scheune mit ein, in dem sich ein Plumpsklo befand.
Die Alternative wäre Bayeux gewesen, das ohnehin mein nächstes Ziel war. Doch angesichts der Tageszeit und der angehäuften Tageskilometer entschied ich mich für die Trockentoilette und den Standplatz auf der Pferdeweide. Es war die richtige Entscheidung und ungeachtet kleiner Schönheitsfehler ein traumhaftes Plätzchen. Ringsum grünes Gras, darauf gut genährte und gut gepflegte Warmblüter mit langen weißen Mähnen, im Hintergrund hohe Bäume, unter denen braune Longhorn-Rinder grasten. Idylle pur!
Ich stellte mich neben ein Wohnmobil mit französischem Kennzeichen, unter dessen Markise eine junge Frau gerade am Kochen war. Ich sagte „Bonjour“ zu ihr, was sie mit „Hi. Nice to see you! “ quittierte. Also schaltete ich ebenfalls auf Englisch um und wir wechselten ein paar Worte zum Woher und Wohin. Sie erzählte mir, dass sie und ihr Mann aus New Orleans stammten und zusammen mit ihrem Töchterchen zum ersten Mal Urlaub in Europa machten. Sie selbst arbeitete als Ärztin in einem Krankenhaus und ihr Mann war Musiker.
„New Orleans und Musik – das passt doch! Jetzt sag bloß noch, dass er in einer Jazzband spielt …“
„Nein, das nun nicht – auch wenn er es gern tun würde. Aber als Lehrer verdient er einfach besser und vor allem regelmäßiger, als wenn er sich von Auftritt zu Auftritt durchhangeln müsste. Dafür schmuggelt er im Schulorchester immer wieder mal gern Charlie Parker, Louis Armstrong oder Kid Ory zwischen Bach und Beethoven. Oder Jon Hendricks, den sein Großonkel im zweiten Weltkrieg persönlich kennengelernt hat. Und das sogar hier in Frankreich! Sie wurden Freunde und blieben es auch, nachdem Hendricks zusammen mit Annie Ross und Dave Lambert zu den ganz Großen des Jazz aufgestiegen war.“
Genau in diesem Augenblick bog der Schmuggler von der Highschool-Band um die Ecke, begleitet von einem Mädchen im Grundschulalter. Natürlich wusste ich, dass der schwarze Bevölkerungsanteil in der Stadt am Mississippi weit über 50 % liegt. Trotzdem war ich überrascht, mitten in der Normandie auf einen dunkelhäutigen Afro-Amerikaner zu treffen. Einen sehr dunkelhäutigen, zudem in Begleitung einer Frau, die sich – groß, blauäugig und blond – exakt in das unheilvolle Klischee von der nordischen Rasse einfügte. Die Kleine dagegen war eine entzückende Mischung zwischen ihren Eltern, ein bildhübsches Kind mit roten Schleifen an den Zöpfen. Ohne zu zögern und voller Begeisterung stürzte sie sich auf meinen Hund und knuddelte ihn durch. Der – kinderlieb wie er war – gab die Streicheleinheiten sogleich mit seiner nassen Zunge zurück.
„Ihr kommt genau richtig“, begrüßte die Frau ihre beiden Heimkehrer. „Die Spaghetti sind gerade fertig geworden.“ Und an mich gerichtet: „Du kannst gern bei uns mitessen. Es ist mehr als reichlich.“
Natürlich nahm ich die Einladung mit Vergnügen an, kramte aber vorher noch schnell eine Flasche Cabernet Sauvignon und eine Tüte Weinbergpfirsiche aus meiner Küchenkiste.
Es schmeckte ausgesprochen gut, doch mehr noch als das Essen genoss ich die Gesellschaft meiner netten Nachbarn, die sich als Patricia und Steven vorstellten. „Und ich“, krähte die Kleine dazwischen, „ich heiße Amber!“
Sie waren mit dem Flugzeug in Paris gelandet und hatten sich dort den Camper gemietet, mit dem sie seit zwei nunmehr Wochen unterwegs waren.
„Frankreich war schon immer ein Traum von mir“, sagte Patricia. Und Steven ergänzte: „Für mich zudem ein Stück meiner Familiengeschichte.“
„Du hast familiäre Bindungen hierher?“
„Nein, aber mein Großvater war im zweiten Weltkrieg in der Nähe als Soldat im Einsatz. Und ist bei euch in Deutschland ums Leben gekommen.“
„Wie und wo ist das passiert?“
„Seine Einheit, das 761ste Panzer-Bataillon, genannt die Schwarzen Panther, landete am 10. Oktober 1944 am Omaha Beach, zwanzig Kilometer nordwestlich von Bayeux, und wurde der Dritten Armee von General Patton zugeordnet. Es kämpfte in der Ardennenschlacht, überschritt Anfang März die deutsche Grenze und erreichte am 10. April Coburg in Bayern. Und obwohl der Widerstand dort am Zusammenbrechen war, es überall brannte und auf dem Schloss schon eine weiße Flagge wehte, erhielt mein Opa noch einen Lungendurchschuss.“
„Das tut mir leid!“
„Es braucht dir nicht leid zu tun – so ist halt der Krieg. Sicher, für Oma war es ein Schock, als sie die Todesnachricht bekam. Aber er selbst musste dadurch wenigstens nicht miterleben, wie die Kämpfe seiner Einheit nach Kriegsende vertuscht und verschwiegen wurden. Der Mut, das Leiden und das Sterben der farbigen GIs!“
„Als Teil des großen Ganzen hat man doch sicher auch die Erinnerung an sie wachgehalten?“
„Nein, nein! Ganz und gar nicht. Unsere Oberen hatten bei General de Gaulle sogar durchgesetzt, dass bei der Siegesparade am 26. August 1944 in Paris keine Farbigen mitmarschieren durften. Nicht einmal auf Seiten der Franzosen! Kanonenfutter ja, Bürgerrechte nein – und Helden um keinen Preis der Welt! Mein Opa und seine Kameraden hatten gefälligst dankbar dafür zu sein, dass sie für die Freiheit anderer sterben durften. In schwarzen Einheiten unter weißem Kommando! Gottseidank haben sich die Zeiten inzwischen geändert. Abgesehen von ein paar Idioten, die sich beim weißen Pöpel anbiedern wollen, kümmert die Hautfarbe heute niemanden mehr. Auch nicht die von Barack Obama, von Kamala Harris oder – um beim Militär zu bleiben – die von Colin Powell.“
„Erzähl mal von Onkel Jeremy“, schaltete sich Patricia ein.
„Den Kameraden und Freund von Jon Hendricks?“, fragte ich.
„Genau der“, antwortete Steven. „Jeremy, der Bruder meines Opas, also eigentlich mein Großonkel. Er hatte mehr Glück und konnte den Krieg unverletzt überleben. Er ist mit der zweiten Welle der Invasion nach Frankreich gekommen und hat hier dann Lkw gefahren. Als einer von den vielen, die Cherbourg für kurze Zeit zum größten Hafen der Welt gemacht haben. Und die meistens schwarz waren. Namenlose Arbeitsameisen ohne Gesicht und ohne Biographie. Wie einst auf den kubanischen Zuckerrohrplantagen und den Baumwollfeldern in Georgia. Nun eben in den Häfen, auf den Bahnhöfen und Straßen der Normandie. Und sie mussten all die Leichen wegräumen, die sich teilweise meterhoch stapelten. Auf diesen herrlichen Stränden mit den exotischen neuen Namen: Omaha Beach, Utah Beach ...“
Die kleine Amber war es schließlich, die uns von diesem Abstecher in die Geschichte wieder in die Gegenwart zurückholte. Sie schleppte nach und nach ihr sämtliches Spielzeug herbei, das ich gebührend bewundern musste. Schließlich fragte sie, ob sie mit Benni eine Runde Gassi gehen dürfe.
Bei ihrer Rückkehr führten die Beiden dann voller Stolz vor, wie gut er englische Kommandos gelernt hatte. Zumindest „Sit!“ klappte hervorragend, dagegen kuckte er bei „Heel!“ etwas verständnislos – vermutlich, weil es nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem gewohnten „Bei Fuß!“ hatte.
Als ich mich spät am Abend in meine rollende Behausung zurückzog, nahm ich neben der Bekanntschaft mit drei wunderbaren Menschen als wichtigstes das Wissen mit, dass in den USA die Apartheit bis fast in unsere Zeit hinein praktiziert wurde. Unter der Bezeichnung „Segregation“. Einer Wortschöpfung, so nichtssagend und harmlos klingend wie „Selektion“ oder „ethnische Säuberung“.
Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich auf das Herzlichste von den Dreien und fuhr weiter nach Bayeux, jenem Ort, der mit gleich zwei blutigen Invasionen verknüpft ist. Die erste bewunderte ich auf dem Teppich der Normannen-Königin Mathilde und folgte den Spuren der zweiten kreuz und quer durch die Stadt. Durch das Musée-Mémorial du Général de Gaulle, vorbei an der Stele auf der Place Charles de Gaulle mit dem Text seiner Rede vom 14. Juni 1944 darauf und vor allem durch das Musée mémorial de la bataille de Normandie.
Nach dem vorangegangenen Abend achtete ich bei all dem sehr genau auf Spuren farbiger Soldaten. Doch unter der Vielzahl von Bildern stieß ich auf gerade einmal zwei Fotos, auf denen Afroamerikaner im Kampfeinsatz zu sehen waren.
Die gefeierten Helden der Invasion traf ich dann bei meiner Ankunft am Utah Beach. Was mir dort als erstes ins Auge stach, war ein stählernes Landungsboot, von dem aus lebensgroße GIs aus Bronze an Land stürmten. Durchtrainierte und zu allem entschlossene Infanteristen, die auch mit einem Totenkopf an der Uniform nicht aufgefallen wären. Begleitet wurden sie von höchst lebendigen Touristen mit Sonnenbrand und Badeschlappen, die das martialische Szenario ausgiebig für die Anfertigung von Selfies nutzten.
Hundert Meter landeinwärts der erste Kilometerstein des „Voie de la liberté“ mit einer symbolischen Fackel darauf, die aus den Wellen des Meeres emporsteigt. Der Weg der Freiheit, der dem Zug der 3. US-Army unter General Patton folgt. Zumindest bis Bastogne in den Ardennen. Der Rest des Weges – Coburg, das KZ Gunskirchen, Hermann Görings Schloss in Neuhaus an der Pegnitz oder das Zusammentreffen mit der Roten Armee in Steyr – er wurde vergessen und verdrängt. Genauso wie der Name Black Panthers, der sich erst viel später einen Platz in der amerikanischen Geschichte eroberte.
Auf den Spuren von Arthur Rimbaud
... in seiner Geburtsstadt Charleville
Die Totenvögel
Herr, wenn kalte Wiesen frieren,
wenn in den erstarrten Weilern
keine Glocken mehr vibrieren,
dann lass vom hohen Himmelszelt
die geschätzten teuren Raben
sich stürzen auf die kahle Welt.
Der ernsten Schreie fremdes Heer –
nach euren Horsten greift der Wind!
Entlang der Flüsse hin zum Meer,
über Straßen zu Kapellen,
über Löchern, über Gräben
zerstreut euch, findet euch, Gesellen!
Zu Tausenden auf leeren Feldern,
wo die toten Helden ruhen,
Dreht euch, wenn es wieder kälter,
für jene, die man einst gehenkt.
Seid nun die Herolde der Pflicht
dass, wer vorübergeht, gedenkt!
Im Abendlichte wie ein Mast
steht der Apostel Eichenbaum;
die Grasmücken im Walde lasst
für jene, die in Ketten noch –
ohne Chance zu entkommen
unterm Gras dem schlimmen Joch.
(nach A. Rimbaud, Les Corbeaux)
--- und hier die passende Begleitmusik (zum Anhören Bild anklicken):