Unterwegs
Da sich mein Leben mittlerweile zu einem großen Teil auf Rädern abspielt, stelle ich hiermit die neue Rubrik "Unterwegs" vor. In ihr werde ich versuchen, meine beiden größten Leidenschaften zusammenführen, nämlich das Schreiben und das Reisen.
--- und hier die passende Begleitmusik (zum Anhören Bild anklicken):
Strandgut
Ein Urlaubstag an der Lübecker Bucht. Tonia planscht mit unserer Kleinen im flachen Wasser herum und ich habe die Aufgabe, derweil am Strand ihre Kleider und die Kühlbox mit den Getränken zu bewachen. Dort döse ich auf meinem Badetuch vor mich hin, genieße den Kitzel der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und werfe ab und zu einen trägen Blick auf drei hübsche Mädchen, die neben mir Frisbee spielen. Hohe Segel ragen als Ausrufezeichen aus dem bunten Strandgetümmel heraus und draußen auf dem Meer verschwindet eine der großen Skandinavien-Fähren langsam in der Ferne. Meine Hand wühlt sich wie von selbst in den warmen, trockenen Sand, spürt, wie dieser in der Tiefe kühl und feucht wird. Dann stößt sie auf ein Hindernis und schließlich fördere ich einen skurril geformten Kieselstein ans Tageslicht.
Er bringt mich in Gedanken eine Ewigkeit zurück – und vierzig Kilometer weiter nach Osten, an die Küste der Insel Poel. Dort durfte ich damals die Sommerferien bei meiner Tante verbringen und kam so zum ersten Mal in meinem Leben an die See. Den lieben langen Tag über streifte ich mit den Kindern aus dem Dorf auf der Insel herum und spielte mit ihnen vorzugsweise Seeräuber oder Entdecker. Inständig hoffte ich, dabei auf einen vergrabenen Schatz zu stoßen oder wenigstens auf ein Stück Bernstein, wie es – darauf gaben sie ihm ihr Ehrenwort – gelegentlich im Spülsaum verborgen sein sollte. Natürlich fanden wir nichts, außer Muschelschalen, Treibholz und höchstens einmal einer rundgeschliffenen Glasscherbe.
Bis ich den Knochen aus dem Sand ragen sah. Er war platt und dreieckig und mit ein paar Seepocken bewachsen. Ganz zweifellos stammte er von einem Meeresungeheuer oder von einem Piraten, den man hier irgendwann gehenkt und am Ufer verscharrt hatte.
Stolz wie ein Apatschenhäuptling brachte ich meinen Fund zu Tante Gisela. Sie hatte jahrelang als Krankenschwester gearbeitet und war damit eine kompetente Ansprechpartnerin für alle Fragen der Anatomie. „Schulterblatt eines Menschen“, belehrte sie mich, nachdem sie das ausgebleichte Stück begutachtet hatte. „Vielleicht noch von der Cap Arcona.“
Modell der "Cap Arcona"
Dabei waren ihre Lachfältchen verschwunden und hatten einer ungewohnt nachdenklichen Miene Platz gemacht. „Weißt du, das ist eine der schrecklichsten Geschichten, die in diesem furchtbaren Krieg passiert sind. Am 3. Mai 1945 haben britische Flugzeuge vor der holsteinischen Küste zwei Schiffe versenkt, die Cap Arcona und die Thielbek. Militärisch völlig überflüssig, denn beide Dampfer waren unbewaffnet und manövrierunfähig. Außerdem stand die deutsche Kapitulation unmittelbar bevor. Und es war eine Riesenschweinerei, denn zumindest von der Thielbek ist belegt, dass sie eine weiße Flagge gehisst hatte, um sich den Angreifern zu ergeben. Aber was das Schlimmste ist: Die Seelenverkäufer waren bis zum Bersten vollgestopft mit Überlebenden aus den Konzentrationslagern der Nazis. Aus halb Europa hatte man Häftlinge in das KZ Neuengamme verlegt, um sie mit Bussen des Roten Kreuzes in ihre Heimat zurückzubringen. Dann wurde Neuengamme evakuiert und sechs- oder siebentausend dieser Menschen auf Schiffen zusammengepfercht. Auf der Cap Arcona, die früher als Kreuzfahrtschiff unterwegs war, auf dem Frachter Thielbek und auf einigen kleineren. Das weiß ich deshalb so genau, weil dein Onkel in Neustadt im Lazarett lag und dadurch quasi zum Augenzeugen wurde.“
„Onkel Hubert?“
„Nein, Onkel Heinz. Mein Cousin, der kurz nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft in den Westen abgehauen ist. Er hat mir erzählt, unter welchen Bedingungen diese Leute dort untergebracht waren. Es gab nicht einmal ausreichend Wasser für alle und kaum etwas zu essen. Und als das Rote Kreuz Lebensmittel verteilte, kotzten sich viele die Seele aus dem Leib oder bekamen fürchterliche Krämpfe. Weil ihre Mägen gar nicht mehr an ordentliche Nahrung gewöhnt waren und sie die Sachen voller Heißhunger hinunterschlangen.“
„Und warum hatte man sie auf diese Wracks verfrachtet?“
„Darüber gibt es widersprüchliche Vermutungen. Manche sagen, man wollte sie absichtlich der Gefahr durch feindliche Angriffe aussetzen. Sozusagen den Alliierten die blutige Drecksarbeit überlassen. Andere behaupten, sie sollten von dort aus entlassen werden. Tatsache ist, dass am 30. April einige Hundert von ihnen mit schwedischen Schiffen nach Malmö und damit in Sicherheit gebracht wurden. Und alle anderen hofften natürlich, dass sie das nächste Mal mit dabei sein würden. Dass die Schrecken des Krieges und der Gefangenschaft damit für sie endgültig vorbei wären. Stattdessen ertranken und verbrannten sie mitten auf der Ziellinie. Sie erfroren im kalten Wasser oder wurden von den Bordkanonen der Flieger niedergemäht. Stell dir vor, so kurz vor dem Frieden, so kurz vor der Freiheit wurden sie in einen absurden Tod getrieben. Wenige Stunden später trat für Norddeutschland die Kapitulation in Kraft, die die deutsche Reichsregierung mit den Briten augehandelt hatte, und nach fast sechs Jahren Kampf schwiegen die Waffen endlich. Doch für diese Siebentausend wenige Stunden zu spät.“
Der letzte der "Weißen Busse" (ausgestellt in Malmö), mit denen 1945 rund 15.000 KZ-Häftlinge in Sicherheit gebracht wurden
„Aber darf man Menschen einfach so plattmachen? Wie Fliegen mit einer Fliegenklatsche?“
„Im Krieg offenbar schon. Außerdem musst du den Engländern zugutehalten, dass sie schon weite Teile von Deutschland erobert und dabei auch seine schwärzesten Seiten kennengelernt hatten. Allein bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen vierzehn Tage zuvor waren sie auf eine irdische Hölle gestoßen, auf Tausende von Gefangenen, die buchstäblich verhungert waren. Oder unmittelbar davor standen. Somit kann ich ihren Hass auf die Deutschen schon irgendwie verstehen. Nur dass sie in der Lübecker Bucht die Falschen niedergemetzelt haben. Nicht die Täter, sondern die Opfer. Zudem ist man im Flugzeug anscheinend weit genug weg, um nicht mehr Menschen zu sehen, sondern nur noch Punkte. Störende Kleckse, die man wegradieren möchte. Jeder Treffer kein Mord mehr, sondern nur noch ein Beweis der eigenen Schießkunst.“
„Furchtbar!“
„Furchtbar menschlich. Ab einer gewissen Entfernung wird wohl alles zur Zielscheibe. Ich, ich habe einen der Toten aus der Nähe gesehen und seinen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Er wurde erst zwei Wochen nach der Versenkung hier angespült. Ein ausgemergelter Mann in Häftlingskleidung, dem ein Kopfschuss das halbe Gesicht weggerissen hatte.“
Mein jugendliches Alter war zweifelsohne schuld daran, dass mein Entsetzen relativ schnell wieder verblasste. Zumal das Ganze für mich auch etwas Abenteuerliches und Geheimnisvolles an sich hatte. Erst recht, als ich erfuhr, dass die Cap Arcona als Kulisse für einen der ersten Titanic-Filme gedient hatte und ich somit plötzlich auch ein bisschen in die berühmteste Katastrophe der Schifffahrt verstrickt war. Denn ein lautlos aus der Nacht auftauchender Eisberg beflügelte meine Phantasie ungleich stärker als das Rattern von Maschinengewehren, das bis zum bitteren Ende spielende Orchester des Luxusliners mehr als die sinnlosen Kommandos der SS-Wachen.
Andererseits hatte sich mein Souvenir nunmehr als Teil eines Menschen entpuppt, der ein fürchterliches Schicksal hatte durchleiden müssen. Deshalb mochte ich es weder aufheben noch einfach über die Mülltonne entsorgen. Also beratschlagte ich mich mit meinen Freunden und wir beschlossen, diesen letzten Rest eines unbekannten Toten unter dem Blätterdach einer alten Linde zu begraben.
Einige Jahre später behandelten wir das Thema in der Schule und bei meiner Lehrerin klang es auf einmal ganz anders als in den Erzählungen meiner Tante. Der Held der Katastrophe war nun kein namenloser KZ-Häftling mehr, den Hitlers Feldzüge aus Polen, Norwegen oder der Ukraine hierher verschlagen hatten. Nein, es war Ernst Goldenbaum, ein stalinistischer Funktionär, der sich vom Stallknecht bis an die Spitze des Bauern- und Arbeiterstaates hochgebissen hatte und der FDJ nunmehr als Vorbild im Klassenkampf anempfohlen wurde. Er konnte dem Inferno seinerzeit entkommen und blies dann selbst zum Halali auf Menschen. Zur Fallenjagd mit Minen und Selbstschussanlagen, zur Pirsch mit Maschinenpistolen, zur Hetzjagd mit dressierten Bluthunden.
Auf dem Programm stand auch ein Ausflug zur Gedenkstätte für die Opfer der Versenkung. Tante Gisela hatte mir die Stelle ausführlich beschrieben, mit dem großen Kreuz aus Birkenholz, den benachbarten Dünen und dem nahen Meer.
Doch es kam ganz anders. Unser Weg endete bereits weit im Binnenland, auf dem Tannenberg bei Grevesmühlen. Und was uns dort erwartete, glich weniger einem Friedhof als vielmehr einem Aufmarschplatz. Klassenweise mussten wir zum Appell antreten und unterschieden uns dabei nur durch die Farbe der Halstücher von unseren Eltern und Großeltern, die vierzig Jahre zuvor genauso aufgestellt worden waren.
Erst nach dem Sturz der zweiten deutschen Diktatur sollte ich erfahren, was zu dieser steingewordenen Geschmacklosigkeit fernab der Küste geführt hatte. Das Massengrab, in dem man die Toten ursprünglich beigesetzt hatte, lag zu nah an dem Stacheldraht, mit dem die Staatsmacht Menschen, Ideen und Träume aufhalten wollte. Nicht nur die Lebenden wurden aus dem Todesstreifen vertrieben, sogar die Verstorbenen mussten ihm weichen.
Jetzt, am Strand von Scharbeutz, fallen mir rückblickend die Worte ein, die der Dichter Rainer Kunze anlässlich einer Lenin-Ehrung niedergeschrieben hat:
„Selbst wenn sein wille es gewesen wäre
so
geehrt zu werden, ihm geschähe
unrecht“
„Warum kuckst du so trübsinnig?“, will Tonia von mir wissen, als sie nass, lachend und mit einem zappelnden Kind im Arm wieder bei mir auftaucht. Ich zeige ihr den Stein und erzähle ihr die Geschichte dazu. „Weißt du was“ meint sie daraufhin und schaut mindestens genauso nachdenklich drein wie ich, „wir sind doch ganz nah dran an der Unglücksstelle. Neustadt liegt nur drei Orte weiter und demnach muss es auch hier noch Spuren von der Versenkung geben. Ich finde, wir sollten uns mal danach erkundigen.“
Die Frau an der Rezeption unseres Hotels kann uns tatsächlich die gewünschte Auskunft geben. Also planen wir für den nächsten Tag einen kleinen Ausflug und mieten uns zwei Fahrräder und einen Kindersitz. Entlang der Küste radeln wir bis zur Travemündung bei Lübeck und sehen uns die Passat an, die dort vor Anker liegt.
Ein imponierender Anblick, der prächtige Windjammer. Und zugleich ein stählernes Denkmal für sein Schwesterschiff Pamir, das 1957 mitten im Nordatlantik achtzig Seeleute mit in die Tiefe gerissen hat. Der Untergang wird ausführlich geschildert. Offensichtlich, so kommt es uns vor, fällt es viel leichter, über eine zigtausend Seemeilen entfernte Naturkatastrophe zu reden und zu schreiben als über das Massensterben in Sichtweite von Travemünde.
Erst auf dem Rückweg machen wir Station auf dem Waldfriedhof in Timmendorfer Strand. Während wir unsere Räder am Eingang abstellen, rauscht hinter uns unablässig der Verkehr auf der Bundesstraße vorbei. Als wir die Pforte passiert haben, scheint indes die Ruhe des Ortes den Lärm der Autos zu übertönen. Ein hohes Kreuz mit einer Natursteinmauer – von Bäumen umrahmt wie ein einzelner Knochen auf der Insel Poel – wird vom warmen Licht der tiefstehenden Sonne angestrahlt.
Schweigend lesen wir die Inschrift und gehen Hand in Hand an den Massengräbern vorbei. Schließlich stehen wir in der Kapelle und betrachten die Erinnerungsstücke, die am Unglücksort geborgen wurden. Ein Schuh, ein paar Münzen. Fast banal wirken sie – wie altes Spielzeug, das man zufällig auf dem Speicher findet und das die Kindheit auf einmal wieder lebendig werden lässt. Doch zwischen den ausgestellten Überbleibseln der Katastrophe und dem liebenswerten Trödel nostalgischer Erinnerungen steht als unsichtbare Grenze das eisige Ostseewasser jenes Frühlings 1945.
Es wird schnell kühl, als wir im Abendlicht die Strandpromenade entlangspazieren und von der Seebrücke auf das Meer hinausschauen. Das Wasser ist trügerisch glatt und lässt nichts ahnen von dem Drama, das sich hier vor einem halben Jahrhundert abgespielt hat. Tonia scheint in meinem Kopf zu lesen. „Was passiert ist, können wir nicht mehr ungeschehen machen. Aber die Würde“, sagt sie mit leiser Stimme, „wenigstens ihre Würde hat man den Toten zurückgegeben.“
Während ich sie in den Arm nehme und mich bemühe, meine düsteren Gedanken zu verscheuchen, kommt ein junges Pärchen auf uns zu. Die beiden grüßen freundlich, dann fragt mich die Frau auf Englisch, ob ich vielleicht so nett sei, eine Aufnahme von ihr und ihrem Freund zu machen. Ihr schottischer Dialekt springt mich dabei förmlich an, lässt die zwei Jahre wieder lebendig werden, die ich in Edinburgh verbracht habe.
Bereitwillig lasse ich mir die Kamera geben und male die Frischverliebten mitsamt der Ostsee auf die Speicherkarte. Und weil sie vor dem Hintergrund des Strandes und dem rötlichen Abendhimmel ein so zauberhaftes Motiv abgeben, drücke ich gleich noch ein zweites und drittes Mal ab. Mit meiner eigenen Spiegelreflex und für mein eigenes Album. Schnappschuss von einem Nachbarschaftsbesuch, Willkommensgruß für Freunde. Getreu des wohl berühmtesten schottischen Gedichtes, geschrieben von Robert Burns und übersetzt von Ferdinand Freiligrath: „Es kommt dazu trotz alledem, dass rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht trotz alledem.“