Literaturkalender für 2024

Für sein nächstes Kalenderprojekt sucht der Südthüringer Literaturverein Texte und Bilder zum Thema „Thüringer Ansichten“. Gefragt sind Beiträge, die man an einem Montagmorgen gern anschaut und liest – und deren positive Wirkung dann zwei Wochen lang anhält!


Die Teilnahmebedingungen gibt es hier zum Nachlesen und hier zum Herunterladen.

Souvenir aus der Rhön ...

... von der Südthüringer Literaturwerkstatt 2023:


Griechische Schönheit


Als ich einmal auf Lesbos Kaninchen jagte, begegnete mir im Haine, der den Nymphen geweiht ist, etwas so Schönes, dass ich mich eines Schöneren nicht entsinnen konnte. Dabei ist der Ausdruck „begegnen“ eigentlich fehl am Platze, denn eine Begegnung setzt üblicherweise ein aufeinander Zugehen voraus. Und genau dazu war er nicht fähig, dieser Ölbaum, der vermutlich schon tausend Jahre oder länger an seinem Platz verharrte. Sie hatten seine Haut runzlig werden lassen, ihm einige seiner Gliedmaßen geraubt und den anderen das Aussehen von Gnomen, Zwergen und anderen Märchenwesen verliehen. Sein Laub schimmerte silbern im Sonnenschein und seine Blätter bewegten sich ganz leicht im kühlen Morgenwind. Der wehte vom Meer her und brachte dünne Wolkenschleier mit, die sich am Bergmassiv stauten und später am Tag der Insel vielleicht die so dringend benötigte Feuchtigkeit zuführen würden.


Den Baum interessierte das vermutlich höchstens ganz am Rande. Er war so tief und fest im Erdreich verankert, dass seine Wurzeln ihn auch bei Trockenheit mit ausreichend Wasser versorgen konnten. Deshalb betrachtete er seine Umgebung mit äußerster Gelassenheit und zudem mit etwas, dem man beim Menschen wohl das Etikett der Altersweisheit anheften würde. Er hatte sie alle kommen und wieder verschwinden sehen, die westlichen wie auch die östlichen Römer, die brandschatzenden Kreuzritter, die Osmanen, die arroganten Engländer und schließlich die Griechen. Die allerdings waren gleich Jahrhunderte lang geblieben und hatten diesen Fleck in der Ägäis zu dem Edelstein im Meer gemacht, den ich jetzt so bewunderte.


Ein Juwel, das ich noch immer bewunderte, trotz der schändlichen Rolle, die ihm kriminelle Menschenhändler in der jüngsten Vergangenheit aufgezwungen hatten und ihm noch immer aufzwangen. Tag für Tag und vor allem Nacht für Nacht. Dunkelhäutige Wasserleichen, angespült am hellen Sandstrand, brennende Zelte zwischen Oliven, Bougainvilleas, Oleanderbüschen und Abfallhaufen. Dazu gewaltige Mengen an Dollars und Euros, die jenen abgepresst wurden, die eigentlich schon vor ihrer Ankunft alles verloren hatten.


Der Erhabenheit des alten Ölbaums tat all dies keinen Abbruch. Irgendwann, soviel ist sicher, würde die Ruhe zurückgekehrt sein, die ihn seit dem Eintreffen der Venezianer die meiste Zeit umgeben hatte. Irgendwann würde auch die letzte Plastiktüte seine Krone wieder verlassen haben und die Zigarettenkippen zu seinen Füßen von seinem Wurzelwerk aufgesogen sein. Was bliebe, wäre seine Majestät und seine archaische Schönheit. Vielleicht noch einmal tausend Jahre.


(inspiriert von Longos‘ „Daphnis und Chloe“)

Foto: Tbc (Tim Bekaert)



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