Mord und Totschlag

Eine Auswahl meiner erfolgreichsten Kurzkrimis. Diesmal ein Text, der vor fünf Jahren in meinem Buch "Kiesel rot-weiß" erschien - und inzwischen vom technischen Fortschritt längst überholt wurde:

 

Akustisch unsichtbar


Er liebte den Spessart. Und er liebte den roten Tesla, der sie jetzt mit einem leisen Surren auf der B 276 nach Süden trug. Rechts der Straße floss die Lohr, links von ihr erstreckte sich scheinbar nichts als Wald.

Dann kamen sie nach Frammersbach, wo ein Hinweisschild auf die Heilig-Kreuz-Kapelle seine Aufmerksamkeit erweckte. Er kannte das entzückende Gotteshaus, das zwei oder drei Kilometer außerhalb des Ortes stand. Vor ein paar Jahren war er dort gewesen und hatte es sich genau angeschaut. Es hatte eine unvergleichliche Lage – mitten im Wald – sowie ein halbes Jahrtausend auf seinem roten Ziegeldach, war aber leider nur von geringem kunsthistorischem Interesse. Kein Vergleich mit der Klosterkirche in Amorbach, wo zu Beginn der laufenden Restaurierung eine Plastik des Rokoko-Bildhauers Johann Wolfgang von der Auwera auf rätselhafte Weise verschwunden war.

Neben ihm saß Jessica, die sich sehr dekorativ in den hellbraunen Schalensitz gekuschelt hatte. Wenn er sie ansah und wenn er über ihr gemeinsames Leben nachdachte, musste er gelegentlich an Bonny Parker denken. Denn die Kleine war mindestens genauso hübsch wie die amerikanische Polizistenmörderin, allerdings noch um einiges abgebrühter. Ihm selbst fiel damit zwangsläufig die Rolle des Clyde Barrow zu. Aber während bei dem legendären Gangster-Pärchen aus den dreißiger Jahren Clyde für die Wahl des Transportmittels zuständig gewesen war, hatte die Entscheidung für den Steckdosen-Ferrari bei ihnen Jessica getroffen. Ihm war die Kiste eigentlich viel zu teuer gewesen und noch dazu mit dem Makel eines Spielzeugs für grün-alternative Spinner behaftet.

Doch seine Schnecke hatte sich nun einmal dieses Modell in ihren bezaubernden Kopf gesetzt und wenn sie etwas wollte, dann bekam sie es auch. In diesem Fall war das sogar ein echter Segen, denn der Wagen erwies sich als geradezu maßgeschneidert für ihre Bedürfnisse.

Er strahlte Seriosität und Eleganz aus.

Er war beinahe geräuschlos, brachte sie wie ein stummer Schatten zu ihren Einsatzorten und wohlbehalten wieder zurück. „Ist aber auch so was von leise, euer Auto“, hatte Jessicas Oma einmal bewundernd festgestellt und physikalisch völlig inkorrekt hinzugefügt: „Akustisch praktisch unsichtbar. Da macht das Schutzblech an meinem Fahrrad ja mehr Krach.“

Er war unglaublich schnell und hatte eine Beschleunigung, mit der er manches Motorrad hinter sich zurücklassen konnte. Und erst recht die Kombis der Polizei – falls es denn einmal notwendig werden sollte.

Und er verfügte über einen gewaltigen Stauraum. Nicht nur, dass der Kofferraum, dort wo man ihn üblicherweise vermutete, satte anderthalb Kubikmeter fasste. Nein, auch unter der vermeintlichen Kühlerhaube war noch einmal Platz für einhundertfünfzig Liter Gepäck. So diskret und verschwiegen, dass ihn nicht einmal dieser pedantische Zöllner an der russisch-polnischen Grenze gefunden hatte. Freilich hatte Jess den Iwan auch mit beeindruckendem Körpereinsatz abgelenkt und verunsichert. Ralf dagegen hatte in diesen Minuten an nichts Anderes denken können, als an die grausamen Witterungsverhältnisse in Sibirien, die er im Fall der Fälle keine zwei Winter zu überstehen befürchtete.

Die Morgensonne übergoss die Landschaft mit ihrem warmen Licht und schien bereits so intensiv, dass das junge Paar das Dach über seinen Köpfen vollständig geöffnet hatte. Der Fahrtwind spielte an diesem Vormittag ohnehin keine Rolle, da Ralf die Geschwindigkeitsbegrenzungen eisern befolgte und selbst auf offener Landstraße die Einhundert-Stundenkilometer-Marke nicht überschritt. Auf der Autobahn hatte er dem dreihundert PS starken Elektromotor schon mehr als einmal die Sporen gegeben. Aber mit dem Gesetz und seinen Hütern in Konflikt zu kommen – darauf legte er heute beim besten Willen keinen Wert!


 

  (Foto:  JoachimKohlerBremen, für Link zur Lizenz Bild anklicken!)


Außerdem hatten sie alle Zeit der Welt, waren sie doch fast am Ziel. Wertheim Village hieß ihr Treffpunkt und sie waren mit ihrem Kunden um halb zwölf dort verabredet. Bei dem „Dorf“ handelte es sich um eine gewaltige Ansammlung von Schnäppchen-Märkten. Tausende von Menschen überfluteten es Tag für Tag und schufen gerade dadurch ein hohes Maß an Anonymität. Wie zugeschnitten auf die Abwicklung von Geschäften, die eine gewisse Diskretion erforderten. Und zudem nur einen Steinwurf von der Autobahn A 3 entfernt!


Bei Lohr erreichten sie den Main und folgten ihm auf der Staatsstraße 2315 flussabwärts. Vorbildlich langsam passierte Ralf die Ortslagen von Neustadt und Hafenlohr. Trotzdem blieb ihnen in Markheidenfeld für die letzten fünfzehn Kilometer noch über eine Stunde Zeit und so schlug Jessica vor, im Café de Mar am Mainkai in Ruhe einen Cappuccino zu trinken. Auf der dortigen Terrasse hoch über dem Fluss säße man ausgesprochen hübsch, meinte sie, und sie könnten die bevorstehende Transaktion noch einmal in Ruhe durchsprechen.

„Lieber nicht“, wandte Ralf ein. „Du weißt, wie cholerisch er ist. Und wie pingelig. Gerade, wenn es um Pünktlichkeit geht!“

„Ich weiß“, erwiderte Jess leicht angepisst, „aber andererseits dürfen wir uns nicht wie Bittsteller aufführen. Dort in Wertheim stundenlang zwischen Idioten im Kaufrausch rumpaddeln. Wenn wir das Gesicht wahren wollen, muss er es sein, der wartet – und wenn es nur zwei Minuten sind. Wir – wir fahren vor, wir liefern und wir kassieren. Das ist eine Frage der Psychologie!“

Natürlich bekam sie wie immer ihren Willen und dazu einen Logenplatz mit Blick auf das Wasser und die alte Sandsteinbrücke. Statt des Cappuccinos entschieden sich die Beiden für Prosecco, mit dem sie schon mal auf ihren bevorstehenden Triumph anstießen. Die langstieligen Sektkelche klangen wie helle Glocken, die eine neue Zeit einläuteten. Nichts, rein gar nichts, würde sie jetzt noch aufhalten können!

Jessica gönnte sich im Überschwang der Emotionen gleich ein zweites Glas der prickelnden guten Laune. Ralf dagegen hatte die Bestimmungen der StVO so verinnerlicht, dass er die 0,3-Promille-Grenze peinlichst genau im Blick behielt und die letzten Schlucke der Edelbrause vorsichtshalber seiner Freundin zukommen ließ. Die schwärmte derweil von der Karibik, von Curacao und den Inseln unter dem Wind. Ihren Wunsch nach einem eigenen Boot griff er bereitwillig auf und malte ihr in den leuchtendsten Farben aus, wie sie in ein paar Jahren zu den ganz Großen der Branche gehören würden. Vielleicht auch mit einer Yacht und vielleicht sogar schon in ein paar Monaten.

In bester Stimmung fuhren sie nach der Pause auf der B 8 über die Mainbrücke in Richtung Autobahn. Aus dem Radio erklang California Dreaming von den Mamas and Papas und draußen wies ein großes Schild auf den Golfplatz in Eichenfürst hin.

„Golf ist auch eine feine Sache“, sagte Ralf, aber Jessica meinte, es sei eher etwas für alte Leute. „Stundenlang mit einem Wägelchen über die Wiese tapern. Da fühl ich mich einfach noch zu jung für.“

„Das kannst Du so nicht sagen“, entgegnete er. „Den ganzen Tag an der frischen Luft, das ist saugesund und macht echt Spaß. Außerdem trifft man dabei jede Menge einflussreiche Leute. Und solche mit einem Haufen Geld.“

„Da hast Du schon eher ein Argument, das mich überzeugt“, erwiderte sie lachend und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Das hätte sie nicht tun dürfen, denn dadurch war er leider für Sekundenbruchteile vom Verkehrsgeschehen abgelenkt. Und just in diesem Augenblick tauchte urplötzlich von rechts eine Radfahrerin auf und schickte sich an, die Bundesstraße zu überqueren. Ohne anzuhalten und ohne nach links zu schauen!

Im letzten Moment versuchte Ralf ihr auszuweichen. Der Tesla machte das Manöver ungerührt mit, denn die schweren Batterien direkt über dem Fahrzeugboden verliehen ihm eine phantastische Straßenlage. Und diverse elektronische Hilfen sorgten normalerweise dafür, dass er auch in solchen Situationen weiterhin beherrschbar blieb. Trotzdem streifte er nun das Fahrrad ganz leicht. Dieses kapitulierte vollständig vor den Gesetzen der Physik, schlitterte mitsamt seiner Lenkerin über den Asphalt und blieb auf dem Bankett liegen. Der Bremsweg des Autos endete dann auch eher etwas unglücklich, nämlich an einem Lieferwagen, der in Eichenfürst in der breiten Hofeinfahrt parkte.

Der Anblick der leblosen Frau löste in Ralf unwillkürlich einen starken Fluchtreflex aus. Gottseidank widerstand er ihm, denn einfach abzuhauen, hätte sie natürlich vollends in eine Sackgasse hineinmanövriert. Auch entspannte sich die Lage kurz darauf schon wieder deutlich, als sich die vermeintliche Leiche aufrappelte, zur Seite humpelte und sich ins Gras setzte.

„Ich hab Sie einfach nicht gehört“, jammerte sie und rieb sich dabei ihr rechtes Knie. „Hatten Sie Ihren Motor nicht an?“, schob sie nach und hoffte wohl, damit einen Teil ihrer Verantwortung auf andere abwälzen zu können.

Das Geräusch des Aufpralls und das Stilleben am Straßenrand hatte derweil einige Kunden eines benachbarten Gartenmarktes auf den Plan gerufen, die nichts Eiligeres zu tun gehabt hatten, als die Notrufnummer in ihre Handys einzutippen. In der Ferne hörte man bereits ein Martinshorn.

Keine fünf Minuten später waren Polizei und Krankenwagen eingetroffen und standen mit eingeschalteten Rundumleuchten auf dem angrenzenden Hof. Das rhythmische Blitzen des Blaulichtes verlieh der Szenerie dabei eine merkwürdige Atmosphäre, fast wie in einem Krimi. Während die Radfahrerin von zwei Sanitätern verpflastert wurde, fragten die beiden Polizisten Ralf nach seinen Papieren.

„Ich müsste ganz dringend mal telefonieren“, wandte der ein. „Kann Ihnen derweil auch meine Freundin meine Personalien geben und Ihre Fragen beantworten?“

„Kein Problem. Aber anschließend müssten wir das Ganze nochmal mit Ihnen zusammen durchgehen. Sie waren schließlich der Fahrer.“

Ralf nahm sein Smartphone und hielt es sich ans Ohr. „Unfall ... unverschuldet“, lauteten zwei der Wortfetzen, die die anderen aufschnappten. „Wieso halber Preis ... aber abgesprochen ... bestellt ist bestellt ... doch nicht unser Fehler ... dann eben nicht“

Als er aufgelegt hatte, war er so blass wie Hühnchenfleisch aus einer Burger-Bude. Seine Kiefer mahlten und dann schlug er mit der Faust auf die Fronthaube des Wagens, dem er völlig grundlos eine Mitschuld an dem geplatzten Geschäft gab.

Die Klappe, durch die Kollision mit dem Lieferwagen ohnehin in Mitleidenschaft gezogen, öffnete sich daraufhin wie von Geisterhand und gab den Blick auf ein graues Bündel frei. Die Wolldecke, die dieses Bündel als äußere Hülle umgab, war etwas verrutscht und es lugte ein nackter Kinderpopo aus ihr heraus. Ein niedlicher Babyarsch aus Holz.

Der Polizist war mit drei Schritten vor dem Auto und schlug die Decke ganz auf. Vor ihm lag die fein geschnitzte Skulptur einer blau gewandeten Madonna, die ihren Säugling auf dem Arm hielt.

„Da schau her“, sagte der Wachtmeister zu seinem Kollegen. „Kommt uns dieses Mutterglück nicht irgendwie bekannt vor?“

„Mir schon“ antwortete der, nachdem er hinzugetreten war. „16. Jahrhundert, aus dem Umkreis von Tilman Riemenschneider. War vor vier Wochen auf dem Fahndungsaufruf zu diesem Kirchendiebstahl in Mittelfranken.“

Jessica hatte Tränen in den Augen, als sie einen völlig entgeisterten Blick auf die Statue warf und dann zu ihrem Freund hinübersah. „Kir-chen-dieb-stahl“, wiederholte sie mit leiser, aber fester Stimme. „Und dir hab ich vertraut! Hab dir geglaubt und hatte so gehofft, diese Geschichten wären endgültig vorbei.“