| Prosaisch Gedrucktes Schallschutzwand und Schweigemauer Er näherte sich Hersbruck an diesem Sommersamstag von Osten her. In Hohenstadt verließ er den offiziellen Radweg entlang des Flusses und folgte stattdessen dem Schienenstrang rechts der Pegnitz. Erst auf einem Feldweg, dann auf der wenig befahrenen Landstraße. Zwei-, dreihundert Meter hinter dem Ortsschild von Hersbruck stieß er auf einen eckigen Klotz von grotesken Ausmaßen. Spiegelnde Glasflächen wechselten sich ab mit grünen Wänden und erinnerten ihn an ein überdimensionales Aquarium mit starkem Algenbewuchs. Hier musste es gewesen sein. Einst die Kommandantur des Konzentrationslagers, dann eine Steuerbehörde des Freistaats Bayern. Wenn Mauern reden könnten, dachte er, so hätten diese hier Ungeheuerliches zu erzählen. Und würden vermutlich doch stumm bleiben – denn sie waren leblose Prothesen ohne irgendeine Verbindung zur Vergangenheit, ohne jeden Bezug zu allem, was hier einst gestanden hatte und geschehen war. Ein Architekturkritiker hätte vielleicht die Offenheit und Transparenz des Bauwerks hervorgehoben. Doch ihm, dem Laien, verweigerte die glänzende Fassade den Blick in die Vergangenheit und spiegelte ihm stattdessen die Banalität einer Wohnsiedlung vor. Direkt neben dem Koloss bog er nach links ab. Im selben Augenblick kam von Norden her ein Eichelhäher angeflogen. Er erkannte ihn auf Anhieb an seinem bunten Gefieder und dem etwas unbeholfen wirkenden Flug. Das Auftauchen des Vogels überraschte ihn, hätte er ihn doch eher in der Einsamkeit eines Eichen- oder Buchenwaldes erwartet. Aber anscheinend boten auch die angrenzenden Gärten dem Tier einen angemessenen Lebensraum. Es flog unter dem gewaltigen Vordach des Finanzamtes hindurch, das dem Ensemble das Aussehen einer überdimensionalen Tankstelle verlieh. Dann knallte es gegen die obere Ecke der Fensterfront und fiel wie ein Stein zu Boden. Ursächlich für sein Ableben dürfte ein falscher Winkel gewesen sein, in dem es sich dem Hindernis genähert hatte. Denn dadurch hatte es entweder das Glas nicht wahrgenommen und sich auf die Landschaft dahinter konzentriert oder aber die Spiegelung hatte ihm Häuser, Bäume und Himmel an einem Ort vorgegaukelt, an dem in Wirklichkeit nur der Tod wartete. Hinter dem grünen Ungetüm wohl der ehemalige Appellplatz. Auf dem roten Grus rannten Tennisspieler in knappen Röckchen und Shorts den Bällen hinterher. Vom unmittelbar angrenzenden Schwimmbad, das offensichtlich gut besucht war, drang Gekreisch herüber und Musik aus der Konserve. Summertime. Nicht das melancholische Lied von George Gershwin, nur die Jahreszeit und die dazu passenden Schlager. Der kleine Anstieg hinauf zur Innenstadt brachte ihn tatsächlich etwas aus der Puste. Denn er saß schon seit dem frühen Morgen auf dem Sattel und der Anhänger mit der schweren Drehorgel darauf ließ die Kilometer zudem länger erscheinen, als sie eigentlich waren. Am Rathaus konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er im Brunnen davor die lebensgroße Skulptur eines Hirsches entdeckte. Sekunden später erkannte er auch die Hunde, worauf sein Lächeln schlagartig wieder verschwand. Sie waren wie das Stück Rotwild aus Stein und hatten sich an ihm festgebissen, während es in Todesangst versuchte, ihnen zu entkommen. Schiebend setzte er seinen Weg fort bis zum Oberen Markt, wo er sein Gefährt unter den Kolonnaden vor der Rats-Apotheke aufbockte. Aus der Satteltasche holte er einen abgewetzten Plüsch-Gorilla, den er auf dem Instrument platzierte, ebenso einen Zinnteller für die zu erwartenden Einnahmen. Dann setzte er einen Strohhut auf seine graue Mähne und begann vorsichtig einige Takte zu spielen. Sogleich stellte er fest, dass die Akustik hier, eingeklemmt zwischen Schaufenster und Pfeilern, seinen musikalischen Ansprüchen nicht genügen konnte. Außerdem überfiel ihn die Erkenntnis, dass es nicht gut wäre, sich vor seinem potentiellen Publikum halb zu verstecken. Die Betondecke über ihm und die Glaswand hinter ihm kamen ihm vor wie der sprichwörtliche Scheffel, unter den er sein Licht auf keinen Fall stellen wollte. Also verlagerte er seinen Standort noch einmal um wenige Meter hinaus auf das Straßenpflaster des Marktplatzes, blieb dabei aber tunlichst im Schatten der Häuser. Dort eröffnete seine Vorstellung mit einer temperamentvollen Polka. Es folgte ein schwermütiges irisches Volkslied und danach die jiddische Ballade von den „Tsen Bridern“. Sein Leierkasten hatte einen hervorragenden Klang und sein Repertoire ging weit über das übliche „La Paloma“ hinaus. Dadurch vergrößerte sich rasch die Zahl der Passanten, die stehen blieben. Sie bildeten einen weiten Halbkreis um den Affen und den Werkelmann und manch einem von ihnen zuckte es unverkennbar in den Beinen. Auch die Gäste der benachbarten Eisdiele blickten wohlwollend zu ihm herüber, während sie ihre Erdbeer- und Eierlikörbecher löffelten, Früchtezauber mit Schlagsahne und Amaretto naschten, die Bunte Vielfalt genossen oder einfach einen schlichten Eiskaffee tranken. Doch plötzlich gesellten sich Misstöne unter das spanische Lied „El Choclo“ und als das Stück zu Ende war, dröhnte Heinos schwarzbraune Haselnuss durch die Fußgängerzone. Leicht irritiert blätterte der Orgelspieler im großen Fundus seiner Faltkartonnoten und fand sogleich ein etwas lebhafteres Stück, mit dem er besser gegen den Lärm aus der Umgebung anspielen konnte. Anspielen ja, aber nicht überspielen. Die Geräuschkulisse blieb und in der nächsten kurzen Pause erklang Joseph Haydns Deutschlandlied – in einer Qualität, die eindeutig den Straftatbestand der Verunglimpfung der Hymne der Bundesrepublik Deutschland erfüllte. Die Köpfe der Anwesenden wanderten hin und her, um die Ursache des Krachs ausfindig zu machen. Kein Zweifel, er kam aus einem Fenster in einem nahegelegenen Wohnhaus. „Das sind bestimmt Neonazis“, konstatierte eine Frau mit kurzen roten Haaren. „Quatsch“, antwortete ein anderer, „das klingt eher, als hätte jemand Probleme mit den Ohren. Und zwar einer von dieser Sorte in Unterhemd, Jogging-Hose und mit halbvoller Bierflasche. Man muss ja nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen.“ „Hoffen wir das Beste. Obwohl es eigentlich kaum etwas Schlimmeres geben kann als einen Bierbauch in Feinripp und Trevira. Völlig unabhängig vom Hörvermögen und der Musikrichtung!“ Was hilft am wirkungsvollsten gegen die erste Strophe des Deutschlandliedes? Mit ihrem Ausflug an die Maas, an der so schaurige und blutgetränkte Orte liegen wie Sedan und Verdun? Natürlich nur eine beschwingte französische Musette! Der Leierkastenmann hielt sich dabei tapfer, konnte aber nicht verheimlichen, dass er zusehends unsicherer wurde. Dann wummerten dumpfe Bässe in den Dreivierteltakt hinein und in die letzten Noten des Walzers mischten sich Geräusche, die sich bestenfalls als die erste Übungsstunde einer neuen Punk-Band deuten ließen. Zwischen den folgenden Stücken hörte er jemanden sagen: „Man müsste mal hingehen und klingeln“ – doch niemand ging hin und klingelte. „Wir sollten die Polizei rufen“, schlug ein anderer vor – doch niemand rief die Polizei. So schleppte sich das kleine Konzert zwar irgendwie weiter, aber die Störungen wurden immer intensiver. Selbst die vitalsten Stücke wurden zunehmend durch die schrägen Klänge von außerhalb erstickt. Ein Teil des Publikums entfernte sich angewidert vom Ort des Geschehens und der Künstler bemühte sich schwitzend und mit verbissener Miene, für die Verbliebenen sein Bestes zu geben. Hätte man die unerfreulichen Zwischentöne bislang bei großzügiger Auslegung noch dem Oberbegriff „Musik“ zuordnen können, so gingen Melodie und Takt nun vollständig verloren. Was blieb, war eine Art Rhythmus, der jedoch nicht mehr der Feder eines Komponisten zuzurechnen war, sondern nur noch der Tonspur eines Pornofilms von der Tankstelle. Dann geschah etwas Unerwartetes. Die hübsche Rothaarige ging drei Schritte nach vorn, bis sie dem Plüschaffen direkt in seine Glasaugen sah. Alle anderen machten es ihr nach und binnen Sekunden zog sich der große Kreis der Zuhörer zu einem kleinen Kreis zusammen. Hier vorn, direkt an der Quelle der Musik, konnte diese Musik mühelos alle Nebengeräusche übertönen. Zugleich bildeten die Menschen eine Barriere aus Körpern, eine lebendige Schallschutzmauer, an der der Lärm wirkungslos verpuffte. Der Meister fing sich augenblicklich und entlockte seinem altmodischen Kasten schönere Klänge als je zuvor. Nur ganz leise kam dann und wann das akustische Störfeuer noch durch, ehe es schließlich abrupt verstummte. Wenig später verließ ein rundes Dutzend junger Männer das besagte Haus. Sie trugen Springerstiefel und Bomberjacken und die Gesichter auf ihren kahlrasierten Schädeln ließen bei den meisten von ihnen die Intelligenz einer durchschnittlich begabten Kartoffel vermuten. Die letzte der Canaillen knallte hinter sich demonstrativ die Haustür ins Schloss. Ohne die kleine Menschentraube eines Blickes zu würdigen, liefen sie im Pulk in Richtung Nürnberger Tor davon. Er begleitete sie mit einem Marsch, nämlich mit dem Lied von der Einheitsfront. Nicht das Original von Bert Brecht und Hanns Eisler, das während der Diktatur der Einheitsfront zu schmalziger Folklore degradiert worden war. Nein, er spielte die Version von Schmerke Katscherginski, die Hymne der jüdischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg: „Zu ejns, zwej, draj, zu ejns, zwej, draj, Di gettos, di geslech farlost. Jeder trot hot sajn klang, gor an ander gesang, Wen du wejst, wu du gejst un zu wos!“ Und darüber freuten sich alle. Die Zuhörer, die den Ring wieder gelockert hatten, die Anwohner, die ihre Fenster geöffnet hatten und Beifall klatschten, die Tauben hoch oben auf den Dachrinnen und vielleicht sogar die Wände der alten Häuser ringsum. Denn nur einen Steinwurf entfernt, in der pittoresken Idylle des Eisenhüttleins, hatte bis 1934 eine der wenigen jüdischen Familien gelebt, die in dem Städtchen einst zu Hause waren. Wetterfühlig in Franken Als er bei Schirnding die Grenze passierte, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett fünf Minuten nach halb zwei. Am Abend zuvor hatte er sich selbst die Frage beantworten müssen, ob er noch eine Nacht in Prag verbringen oder gleich nach Hause durchstarten wollte. Er hatte sich für die Fahrt entschieden, denn er traute den Tschechen nicht über den Weg. Sicher, er machte gute Geschäfte mit ihnen, aber trotzdem hielt es sie alle für Ganoven und wollte deshalb so schnell wie möglich wieder auf das wohlbekannte Terrain seiner deutschen Heimat zurückkehren. Außerdem hatte eine Reise zu nächtlicher Stunde den unschätzbaren Vorteil, dass 99 % der Bevölkerung schnarchend in ihren Betten lagen. Und auch die wenigen Zöllner und Polizisten, die aus beruflichen Gründen zum Wachbleiben verpflichtet waren, kämpften eher gegen ihre eigene Müdigkeit an als gegen das Verbrechen in der Welt. Der rasche und problemlose Grenzübertritt bestärkte ihn in dieser Einschätzung. Denn die Einreiseformalitäten beschränkten sich auf ein freundliches Lächeln des Beamten, das er mit dem ehrlichen Wunsch nach einem weiterhin ruhigen Dienst quittierte. Seine Sporttasche mit den offiziellen Unterlagen aus dem Nachbarland und ein paar persönlichen Utensilien stand neben ihm auf dem Beifahrersitz. Das Geld dagegen war sorgfältig unter dem Polster des Rücksitzes verstaut, gut geschützt vor gefährlichen Blicken und vor neugierigen Fragen. Er hatte sich extra alles in großen Scheinen auszahlen lassen und war selbst verwundert gewesen, auf welch eine bescheidene Menge Papier einhundertdreiundsechzigtausend Euro reduziert werden können. Nicht nur seine kostbare Ladung stimmte ihn vergnüglich. Es machte ihm auch einen Riesenspaß, zu dieser ungewöhnlichen Zeit die B 303 in Richtung Westen entlangzujagen. Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen in der Fernsehwerbung und die letzte Ziffer auf dem Kilometerzähler brauchte auf den Geraden keine drei Sekunden, um weiterzuspringen. Sogar die langgezogene Rechtskurve im Wald hinter Tröstau durchflog er mit quietschenden Reifen. Sämtliche Fahrstreifen gehörten ihm ganz allein und er konnte sich einen Hauch von Schadenfreude nicht verkneifen, wenn er an die vielen Lkws und Lieferwagen dachte, die das Vorwärtskommen hier in wenigen Stunden wieder deutlich unangenehmer machen würden. Kurz bevor er hinter Bad Berneck die Autobahn erreichte, merkte er, wie der lange Tag nun doch seinen Tribut zu fordern begann und seine Augenlider langsam schwerer wurden. Also hielt er am dortigen Autohof an und legte eine kleine Pause ein. Der schwarze Kaffee von der Tankstelle tat ihm gut. Aber da sein Vertrauen in die stimulierende Wirkung von Koffein sehr begrenzt war, schluckte er zusätzlich eine jener kleinen Pillen, die ihm in solchen Situationen schon oft wieder auf die Beine geholfen hatten. Bei der Weiterfahrt verließ er die A 9 am Dreieck Bayreuth/Kulmbach gleich wieder und setzte seinen Weg auf der A 70 fort – der wohlverdienten Flasche Schampus und seinem Bett mit Nicole darin entgegen. Der Mond leuchtete hell vom Himmel und übergoss die kahlen Äste der vorbeihuschenden Bäume mit einem gespenstischen Licht. Ein Scheinwerferpaar tauchte auf einer benachbarten Landstraße auf und bewegte sich langsam einen Berg hinab, um kurz darauf in einem Wäldchen zu verschwinden. Im Radio sangen die Rattles gerade „The witch“ und er dachte, dass das Stück wunderbar zu der Szenerie vor seiner Windschutzscheibe passte. Wie im Trickfilm müsste sich jetzt der Umriss einer Hexe auf einem Besen vor die volle Scheibe des Mondes schieben und von irgendwo her ein dämonisches Gelächter erschallen. Als das Lied sich seinem Ende zuneigte, ertönte das dämonische Gelächter aus den vier Lautsprechern in den Türen und der Heckablage. Vor den Mond schob sich dabei keine Hexe, sondern eine düstere Wolke, die rasend schnell größer wurde. Außerdem fing es an zu regnen. Erst fielen einzelne Tropfen herab, dann verwandelte sich der Teer unaufhaltsam in einen knöcheltiefen Fluss. Und plötzlich befiel ihn die Angst, von diesem Fluss fortgerissen zu werden – jenem undurchdringlichen schwarzen Vorhang entgegen, auf dem tausende von Irrlichtern durcheinander tanzten und der ihn förmlich aufzusaugen drohte. Über den Himmel zuckte der erste Blitz, während genau zur gleichen Zeit ein krachender Donnerschlag zu hören war. Was danach kam, war kein gewöhnliches Gewitter, sondern ein Inferno aus Sturm, Wasser und elektrischen Entladungen. Natürlich fuhr er jetzt extrem vorsichtig, dennoch wurde das Auto hin- und hergeschüttelt und der Wind fauchte durch alle Ritzen des Verdecks. Bläuliches Licht erhellte im Sekundentakt die tiefschwarze Nacht und Bayern 3 spielte zu allem Überfluss „Riders on the storm“. Obwohl er kaum einen Musiker mehr schätzte als Jim Morrison und die Doors, fand er den Songtext in diesem Augenblick doch mehr als unangemessen: „There’s a killer on the road …“ Er schaltete den Sendersuchlauf ein, der schließlich bei einem kulturlastigeren Programm hängenblieb. Einer der ungarischen Tänze von Johannes Brahms kam über den Äther und hatte eine wohltuend aufheiternde Wirkung auf seinen Gemütszustand. Trotzdem konnte er die Frage nicht aus seinem Gehirn verdrängen, was er bei einem Motorschaden oder einer Reifenpanne mutterseelenallein inmitten dieser Fluten anfangen würde. Ein besonders gleißender Schein durchgeisterte eine kleine Ewigkeit lang die Finsternis und belichtete die imaginäre Fotoplatte in seinem Kopf mit den Türmen von Bamberg, zwischen denen er die Hexenjäger Friedrich Förners zu den Schreien ihrer Opfer tanzen zu sehen glaubte. Sein Gedankenkarussell drehte sich mit ihnen, geriet völlig außer Kontrolle und wurde zu einem hilflosen Spielzeug der Fliehkraft. Was wäre, wenn diese Bestien ihn mit einem ihrer gewaltigen Blitze träfen? Ein Auto wirkt wie ein Faradayscher Käfig, das hatte er schon in der Schule gelernt, doch galt es auch für ein Cabrio? Er spürte, wie kleine Rinnsale aus Schweiß seinen Rücken hinunterflossen. Gleichzeitig hatte er eiskalte Hände und eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Dann wurde es draußen unvermittelt ruhig, windstill und trocken. Die Musik verschwand in einem Rauschen und die Kegel der Scheinwerfer bohrten sich in die Wände des Tunnels Schwarzer Berg. Aber wo war die rote Lichterkette, die hier sonst gleichmäßig hindurchlief, manchmal stockte und sich zögernd weiterbewegte. Und wo waren die aufflackernden Bremsleuchten, die wie feurige Wellen durch diese Lichterkette hindurchflossen? Nichts, nur bleierne Schwärze und diese Röhre aus Beton, die direkt in die Hölle hinabzuführen schien. Gefühlte Stunden später spuckte das Westportal des Tunnels ihn zurück ins Freie. Im Radio war der ungarische Tanz inzwischen längst zu Ende. Stattdessen sang Juliette Gréco zu einer einschmeichelnden Melodie „Le bal des Pendues – Der Ball der Gehenkten“. Kurz darauf drückte eine heftige Windbö den Wagen zur Seite. Beim Versuch gegenzulenken kam er für einen Moment ins Schlingern und rutschte nach rechts gegen die Böschung. Es war nur ein harmloser Blechschaden, der dabei entstand. Doch ein Blechschaden, der für seine blankgescheuerten Nerven das Fass zum Überlaufen brachte. An der nächsten Ausfahrt verließ er die Autobahn und erreichte eine knappe Viertelstunde später die Mainbrücke bei Haßfurt. Zu seiner maßlosen Verwunderung war der Asphalt dort vollständig trocken und das Wasser des Flusses strömte im Mondlicht geradezu friedlich vor sich hin. Trotzdem war er so kaputt, dass er sich außerstande fühlte, auch nur noch einen Kilometer weiterzufahren. Er stellte den Motor ab, stieg aus und wollte die Wagentür hinter sich zuschließen. Doch der Schlüssel bewegte sich keinen zehntel Millimeter, dafür begann er im Halbdunkel grünlich zu fluoreszieren. Erschrocken beugte er sich zu ihm hinab – und da hörte er es: Aus dem Türgriff kamen ganz leise Stimmchen, die aufgeregt durcheinanderredeten. Er war fassungslos, aber dann fielen sie ihm urplötzlich wieder ein: Die Geister und Dämonen, die in alten Schlössern ihr Unwesen treiben! Blitzschnell griff er zu der einzigen Waffe, die ihm in diesem Moment zur Verfügung stand: einer kleinen Spraydose mit Türschloss-Enteiser. Ohne eine Sekunde zu zögern, jagte er einen Strahl der nach Alkohol riechenden Flüssigkeit in den schmalen Schlitz. Daraufhin kehrte schlagartig Stille ein – Totenstille, die nur noch einmal ganz kurz vom leisen Klicken der einrastenden Verriegelung unterbrochen wurde. Hinter dem Marktplatz fand er ein ansprechendes Hotel, in dem er sich für den Rest der Nacht eine Bleibe gönnte. Ungewaschen, mit ungeputzten Zähnen und mit dem linken Schuh am Fuß stolperte er ins Bett und fiel augenblicklich in einen todesähnlichen Schlaf. Als er erwachte, war es schon halb elf durch. Er musste einen Augenblick überlegen, ehe ihm einfiel, wo er sich befand. Dann erfasste sein Blick den Stuhl mit der Sporttasche und mit einem Schlag war er hellwach. Hastig zog er sich an und stürzte hinunter zu seinem Auto. Draußen lachte die Sonne von einem blauen Frühlingshimmel und nichts, aber auch gar nichts, erinnerte mehr an das nächtliche Unwetter. Der Chrysler stand noch immer dort, wo er ihn abgestellt hatte. Trotzdem spürte er, wie sämtliches Blut aus seinem Körper zu weichen begann. Denn die linke hintere Seitenscheibe lag zerkrümelt auf dem Straßenpflaster und auf dem halb nach oben geklappten Rücksitz im Inneren des Fahrzeugs. „Rowdys“, schimpfte ein Rentner, der gerade schlurfenden Schrittes und mit einem verblichenen Einkaufsbeutel in der Hand vorbeikam. „Pure Zerstörungswut.“ Neugierig warf der Alte einen Blick in den Wagen hinein, der ihn sofort wieder etwas versöhnlicher stimmte. „Aber Sie haben trotzdem ein Riesenglück gehabt. Das Radio haben sie dagelassen. Und wegen der Scheibe brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die zahlt ihnen jede Versicherung.“
Sachtexte
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